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Inmitten von Burgruinen, Bibeln und Bahnhöfen lässt sich erahnen, was dieses Land einst trug: ein geistlicher Reichtum, gespeist aus dem Licht des Himmels.
Von Stephan Kobes

Eine Nation im Aufbruch – Deutschland um 1900

Anfang des 20. Jahrhunderts war Deutschland eine Nation im Umbruch. Während die Industrialisierung das Land tiefgreifend veränderte, erstarkte das Deutsche Kaiserreich unter der Herrschaft von Kaiser Wilhelm II. Die Städte wuchsen, die Eisenbahnnetze wurden ausgebaut, und das Land entwickelte sich zu einem der führenden Wirtschaftszentren Europas. Inmitten des industriellen Aufschwungs präsentierte sich Deutschland als ein Land mit starken Werten, geordnetem Leben und ausgeprägtem Sinn für Schönheit.

Besuch einer Prophetin – Ellen White reist durch das Kaiserreich

Deutschland war Anziehungspunkt für zahlreiche Reisende – darunter auch die amerikanische Autorin Ellen White, die Deutschland während ihrer Reisen durch Europa besuchte. Ellen White, eine der einflussreichsten Autorinnen ihrer Zeit, war nicht nur für ihre zahlreichen Artikel und Bücher bekannt, sondern auch für ihre scharfsinnigen Beobachtungen und ihren tiefen Glauben. Ihre Werke fanden weit über die Landesgrenzen ihres Heimatlandes hinaus Anerkennung.

Sogar die deutsche Kaiserin Auguste Viktoria, Ehefrau Kaiser Wilhelms II., las eines ihrer Bücher und brachte ihre Wertschätzung in einem freundlichen Brief zum Ausdruck. Ellen White hielt diesen besonderen Vorfall am 23. Januar 1904 fest:
»Erst vor kurzem erhielt ich die Nachricht, dass ein Exemplar eines meiner Bücher von der deutschen Kaiserin sehr wohlwollend in Empfang genommen wurde und dass sie einen freundlichen Brief geschrieben habe, in dem sie ihre Wertschätzung für dieses Buch zum Ausdruck brachte. Dem HERRN sei alle Ehre.« (1SM 101 / 19LtMs, Ms. 8, 1904, par. 25)

Auguste Viktoria war nicht nur als »Kirchenmäzenin« bekannt, sondern prägte mit ihrem sozialen und religiösen Engagement das geistliche Leben im Kaiserreich. Dass sie ein Werk von Ellen White nicht nur las, sondern auch öffentlich lobte, zeigt die außergewöhnliche Reichweite und Bedeutung der Schriften dieser Autorin – bis hinein in die höchsten Kreise des Reiches.

Mit wachem Blick durch Deutschland

Doch Ellen White erlebte Deutschland nicht nur durch Briefe und Leserreaktionen – sie bereiste das Land selbst, sah es mit eigenen Augen und ließ sich auf seine Menschen, seine Ordnung und seine Eigenheiten ein. Ihre Eindrücke hielt sie mit wachem Blick und einem feinen Gespür für das Besondere fest. Dabei schilderte sie auch manch liebevolle oder skurrile Eigenheit mit feinem Humor und einem Augenzwinkern.

Bilder eines Landes – und was sie über die Menschen verraten

Die lange Fahrt durch das Deutsche Kaiserreich führte Ellen White durch »fruchtbare Ebenen und bevölkerungsreiche Städte« (HS 176). Das Land sei »ein abwechslungsreiches Land, mit kleinen Dörfern und Städten, Bergen, Flüssen, Wäldern, und Anbauflächen … Im Sommer scheint es, als wäre das Flachland mit einem Bandwerk feiner Stickereien aus nahezu allen Grün- und Brauntönen übersät« (HS 175) Anerkennend schrieb sie über auffällig schöne Gegenden: »Die Landschaft ist großartig und malerisch, und muss im Sommer unbeschreiblich schön sein.« (HS 223). Dabei würdigte sie den immensen Arbeitsaufwand, den es gekostet haben muss, das ganze Potenzial der natürlichen Vorzüge des Landes nutzbar zu machen (s. HS 224)

Sie beschrieb »ausgedehnte und stark bewirtschaftete Ebenen … mit ihren Hainen und Obstplantagen und allen Arten von Feldfrüchten, die durch grüne Hecken abgetrennt und mit Dörfern und Städten übersät sind.« (HS 224.225)

Schon immer sei in Deutschland das Land als äußerst wertvoll angesehen worden. »In diesem dicht besiedelten Land wird seit Jahrhunderten jeder verfügbare Meter Land kultiviert.« (HS 176) »Auf den Hügeln und in den Tälern gibt es Haine, Obstplantagen, und Gärten.« (HS 223) »Nicht ein Quadratmeter an Boden wird verschwendet.« (HS 224)
Selbst in Landstrichen, in denen es durchaus nicht einfach war, das Land nutzbar zu machen, seien keine Arbeit und Mühe gescheut worden. »Überall dort, wo das Land zu unfruchtbar und zu gebirgig ist, um anderweitig genutzt zu werden, und wo es Flüsse gibt, die als Transportwege dienen, wird es zur Anpflanzung von Wäldern genutzt … In vielen Ländern sind sie Eigentum der Regierung und werden so sorgfältig gepflegt wie Gärten.« (HS 176)

Gasthöfe wie Paläste, Züge wie Salons: ein Blick auf Komfort, Reisen und Infrastruktur

Auch der Tourismus hatte zu Ellen Whites Zeiten in Deutschland einen beachtlichen Stellenwert: »Da dieses Land das Ziel von Touristen und Erholungssuchenden ist, wird allem, was für Annehmlichkeit und Unterhaltung sorgt, große Aufmerksamkeit geschenkt.« (HS 223)

Ellen White sah auf ihrer Reise »große und elegante Hotels, die von wunderschönen terrassenartig angelegten Außenanlagen, Hainen, Sträuchern und Blumen umgeben sind. Und selbst in den kleinsten und abgelegensten Dörfern sind die Hotels und Gasthöfe wie Paläste im Vergleich zu den Wohnhäusern der Menschen.« (HS 223)
Auf ihrer Reise bediente sich Ellen White im Allgemeinen öffentlicher Verkehrsmittel. Deutsche Züge »sind im Allgemeinen sauber und bequem ausgestattet.« (HS 174) »Die meisten Schnellzüge fahren mit Waggons der ersten, zweiten und dritten Klasse, und die Waggonmuster sind so unterschiedlich, dass es nicht selten vorkommt, dass man einen langen Zug sieht, in dem sich keine zwei Waggons gleichen.« (HS 175) »Der europäische Waggon ist für eine bequeme Nachtfahrt sehr gut geeignet, sofern er nicht überfüllt ist.« (HS 174)
Ganz so einfach – wie Ellen White mit feinem Humor notierte – war das Reisen in Deutschland allerdings auch wieder nicht:

»In Mainz wartete der Zug zwei Stunden, und wir nutzten die Gelegenheit für einen Spaziergang durch die Stadt. Als wir zum Bahnhof zurückkehrten, war unser Gepäck, das wir im Wartesaal zurückgelassen hatten, nirgends zu sehen. Nach langem Suchen fanden wir es bei einem Bahnwärter, der uns mitteilte, dass es bewacht werden müsse. Daraufhin mussten wir einem Mann eine Mark (25 Cent) dafür bezahlen, dass er das Gepäck aus dem Wartesaal geholt hatte, einem anderen einen Franc (20 Cent) dafür, dass er das Gepäck bewacht hatte, und einem weiteren einen Franc dafür, dass er es in den Waggon lud. Dies ist ein Beispiel dafür, was einem auf Reisen in Europa ständig begegnen kann.« (HS 225)

Aber sie genoss ihren Aufenthalt in Deutschland trotz solcher Zwischenfälle spürbar.

Von Schlössern, Palästen und Burgen: Geschichte zum Anfassen

Auf ihrer Reise durch Deutschland bemerkte sie zahlreiche Schlösser und Burgen, die als Denkmäler aus einer vergangenen Ära an eine ereignisreiche Geschichte erinnern. Als sie mit dem Zug entlang des Rheins fuhr, sagte sie:
»Dicht neben uns fließt der schöne Rhein, so glatt und eben wie Glas, und auf seiner ruhigen Oberfläche gleiten kleine Dampfboote auf und ab.« (HS 223)

»Die Eisenbahnstrecke verläuft entlang des Flussufers, schlängelt sich um die Berge herum und bietet auf der ganzen Strecke einen schönen Blick auf den Fluss. Auf beiden Seiten erheben sich Berge, die mal flach zum Ufer abfallen, mal steil aus der Wasseroberfläche aufragen. Paläste und Türme liegen überall am Flussufer, und schmücken jeden emporragenden Standort entlang des Uferverlaufs. Von nahezu jeder Felsklippe oder Bergspitze schaut ein altes Schloss oder eine Burgruine auf das liebliche Tal hinab.« (HS 223)

Diese alten Festungen erinnerten sie an die lebhafte Geschichte des Landes: »Hier und da sehen wir eine alte Burg, die auf den höchsten und am schwersten zugänglichen Anhöhen thront … Diese alten Festungsmauern haben ohne Zweifel eine ereignisreiche Geschichte. Einige von ihnen, wie die Wartburg, waren zur Zeit der Reformation ein Zufluchtsort für die Protestanten. Könnten diese moosbewachsenen Mauern nur erzählen, was innerhalb ihrer Festungsanlagen passiert ist, oder was sich in den Gebirgshöhlen um sie herum ereignet hat, dann könnten wir die spannendsten Geschichten aus dem Leben der Menschen hören, die ihren Glauben verteidigten … und das Gesetz Gottes höher achteten als die Vorschriften von Menschen.« (HS 176)

Städte mit Geist, Geschichte und reformatorischem Erbe

Auf ihrer Reise machte Ellen White natürlich auch Halt in einigen der bekanntesten Städten Deutschlands. Ihre Einschätzung fasste sie wie folgt zusammen:

»Frankfurt ist eine Stadt aus alter Zeit … Es ist ein sehr reicher Ort, und man sagt der Stadt nach, möglicherweise schönere Promenaden zu haben als irgendeine andere Stadt auf der Welt. In kurzer Entfernung von der Stadt gibt es entzückende Dörfer und einige berühmte Heilbäder.« (HS 175)

Hamburg »Hamburg, an der Elbe gelegen, zählt mehr als 270.000 Einwohner. Es ist ein Handelszentrum für ganz Nordeuropa. Es ist der große Einfuhrhafen für das Deutsche Kaiserreich, und die wichtigste Handelsstadt des Kontinents. Trotz ihres hohen Alters ist Hamburg eine schöne Stadt.« (HS 178)
Als Stadt schrieb Hamburg Geschichte – als stiller Schauplatz eines mutigen Schrittes hin zur Gewissensfreiheit Englands: Der englische Reformator Tyndale begann hier das Neue Testament ins Englische zu übertragen: »Das Matthäus- und das Markusevangelium, die er hier übersetzt und gedruckt hatte, sandte er heimlich nach London – als Erstlingsfrucht seines großen Werkes.« (HS 178)

Köln – eine der ältesten Städte im Norden Europas – sei unter anderem für ihre Kathedrale bekannt: »Gegen 20 Uhr erreichten wir … ›Köln‹, wie die Deutschen es buchstabieren und aussprechen. Hier verbrachten wir die Nacht. Unser Hotel war nicht weit vom berühmten Dom entfernt, und wir hatten bei Mondschein einen guten Blick auf ihn. Man sagt, er sei das prächtigste gotische Bauwerk auf der ganzen Welt.« (HS 222) »An dem ganzen Gebäude findet man Ecktürmchen und Statuen« und das mache es zu einem »höchst eindrucksvollen« Bau (HS 222).

Die beiden Türme der Kathedrale waren zu Ellen Whites Zeit die höchsten in Europa. »Doch das wahre geistliche Erbe dieser Stadt reicht weit über die Pracht ihrer Kathedrale hinaus.« (HS 222)

Als Tyndale nämlich nicht länger in Hamburg bleiben konnte, reiste er nach Köln, um dort »den Druck des Neuen Testaments fertigzustellen – in der Hoffnung, hier bessere Möglichkeiten zu finden, das Werk nach seiner Fertigstellung nach England zu schicken.« (HS 222) Als seine Arbeit allerdings verraten wurde, musste er nach Worms fliehen – »jene malerische alte Stadt, die Luther untrennbar mit der Geschichte der Reformation verbunden hat« (HS 225). »Hier vollendete er [Tyndale] sein großes Werk, und England erhielt zum ersten Mal eine Bibel, die in der Landessprache gedruckt war.« (HS 222.223)

Nicht nur Deutschland wurde also durch eine Bibelübersetzung in eigener Landessprache gesegnet – auch andere Länder wie England empfingen durch Männer wie William Tyndale vom Deutschen Boden her Licht und Wahrheit.
Ellen White besaß ein Herz für »Deutschland … mit seinen großen Städten und der zahlreichen Bevölkerung« (Life Sketches, 304.305, 1915).

Auch ihre Art schien bei den Menschen gut anzukommen.

Nächtliche Begegnung an der Grenze des Kaiserreichs

Es war eine dieser eisigen Nächte, die einem bis in die Knochen kriechen. Ellen White und ihre Reisebegleiter befanden sich auf der Rückreise von Skandinavien nach Südeuropa, als ihr Zug mitten in der Nacht, gegen drei Uhr morgens, die Grenze ins Deutsche Kaiserreich erreichte. Die Luft war bitterkalt. Die Passagiere – verschlafen, fröstelnd und müde – wurden aufgefordert, den Zug zu verlassen und zur Zollkontrolle zu erscheinen.

Mr. Kellogg, ein pragmatischer Mann, trat beherzt an die Zollbeamten heran und versuchte, für die Damen Milde zu erbitten. Schließlich sei eine von ihnen krank und könne auf keinen Fall aus dem Zug steigen, erklärte er.

»Aber nein, das half nichts«, schrieb Ellen White. »Ob krank oder gesund, wir mussten alle zur Einreisekontrolle erscheinen.« (HS 221.222)

In Deutschland, so schien es, galten Regeln für alle.

Die Damen machten sich bereit, den Waggon zu verlassen. Doch kaum hatten sie den frostigen Bahnsteig betreten, änderten die Beamten ihre Meinung. »Das reicht«, sagten sie plötzlich, »Sie können zurückgehen.«

Doch damit war die Sache noch nicht erledigt. Die Beamten warfen einen misstrauischen Blick auf Ellen, die sich in ihre Decken und Schals gehüllt hatte, um der Kälte zu entkommen. War das wirklich eine kranke Frau – oder vielleicht doch ein Bündel geschmuggelter Waren? Der Verdacht stand im Raum, und so traten die Beamten noch einmal an die Waggontür, ihre Laternen hell leuchtend, als wollten sie das Geheimnis um die verhüllte Gestalt lüften.

In diesem Moment richtete sich Ellen rasch auf und sagte mit einem Lächeln: »Hier bin ich, meine Herren. Bitte, sehen Sie, dass ich eine lebende Frau bin!« Die Beamten brachen in herzhaftes Lachen aus. Das spontane Auftreten Ellen Whites hatte sie sichtlich amüsiert. »In Ordnung«, sagten sie schließlich auf Deutsch, und ließen die Reisegruppe wieder alleine.

Nach dieser nächtlichen Unterbrechung konnten sich alle endlich wieder unter die warmen Decken kuscheln und ihre Reise unbehelligt fortsetzen.

Schönheit mit Struktur: Was Deutschlands Ordnung über sein Denken verrät

Während ihrer Reise durch Deutschland wurde Ellen White jedenfalls immer bewusster, wie sehr Sicherheit und Ordnung in diesem Land geschätzt werden.

Dabei bemerkte sie, dass das öffentliche Wohl ein Hauptaugenmerk deutscher Rechtsprechung ist. Ellen White schrieb anerkennend: »In vielen Staaten sind sie [Wälder] Eigentum der Regierung und werden so sorgfältig gepflegt wie Gärten.« (HS 176).

»An vielen Orten, an denen die Wälder früher zerstört wurden, wurden sie mit öffentlichen Mitteln wieder aufgeforstet.“ (HS 176), notierte sie und hob damit hervor, wie sehr die Deutschen ihre natürlichen Ressourcen schätzten und schützten.

Auch das deutsche Bauhandwerk erregte ihre Aufmerksamkeit. Anerkennend äußerte sie sich über die massive und stabile Bauweise deutscher Häuser:

»Die Häuser sind normalerweise groß, so dass jedes mehrere Familien in sich fasst. Man erwartet von ihnen, dass sie mehrere hundert Jahre alt werden. Sie werden so stabil wie irgend möglich gebaut, aus Ziegeln oder Steinen, die von außen verputzt werden … Die Gefahr, dass sich ein Feuer von einem zum nächsten Stockwerk ausbreitet ist gering. Der Anblick vieler Häuser erweckt den Eindruck, als kämen sie aus alter Zeit.« (HS 175.176)

Nicht weniger Anerkennung zollte sie der Bauart deutscher Straßen:

»Die Straßen auf beiden Seiten des Rheins sind so perfekt, wie man sie nur irgend möglich machen kann. Und das ist auch kein Wunder; schließlich haben Arbeiter fast 2.000 Jahre lang unentwegt daran gearbeitet, diese zu bauen und auszubessern.« (HS 223.224) Um den Straßen einen geraden Verlauf zu garantieren, hatte man Felsen abgesprengt und Täler aufgefüllt. Aber das Ergebnis sei sehr gut, »so dass sie – selbst wenn sie durch eine sehr bergige Landschaft verlaufen – fast so plan verlaufen wie eine Eisenbahnlinie.« (HS 223.224)

Doch all dies führte zu einer tieferen Frage: Woher kam die Kraft, die dieses Land innerlich trug?

Geheimnis des deutschen Aufschwungs: Wie Bibel, Reformation und Pietismus ein Land prägten

Anfang des 20 Jahrhunderts präsentierte sich Deutschland als aufstrebende Industrienation. Das Land hatte sich nicht nur zu einem führenden Industriezentrum entwickelt, sondern auch seine landschaftliche Schönheit und historische Pracht bewahrt.

War dieser sichtbare Aufschwung allein dem wirtschaftlichen Fortschritt zu verdanken – oder lag ihm eine tiefere Kraft zugrunde?

Deutschland war ein Land, das nicht nur durch seine industrielle und wirtschaftliche Macht beeindruckte, sondern auch durch die tief verwurzelten Werte seiner Menschen: Die Deutschen waren bekannt für eine unermüdliche Arbeitsmoral und einen ausgeprägten Sinn für Ordnung, der sich in allen Lebensbereichen widerspiegelte. Ob in der Landwirtschaft oder in der Architektur – überall spürte man die Präzision, mit der die Deutschen ihr Land gestalteten.

Tatsächlich wandelte sich der Begriff »Made in Germany« Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem Synonym für höchste Präzision und Qualität. Es scheint eine Ironie der Geschichte zu sein, dass er ursprünglich von den Briten als Warnung vor deutscher Billigware gedacht war.

Aber woher kam dieses Streben nach Ordnung und Exzellenz, das sich in allen Bereichen des Lebens widerspiegelte? Was war die Quelle jener Triebkraft, die die ganze Nation zu prägen schien?

Auf der Suche nach einer Antwort lohnt es sich, nach jenen Bewegungen Ausschau zu halten, die moralische Werte ins Herz der Menschen pflanzten. Dabei fallen die Reformation (ab 1517) und der Pietismus (ab 1670) ins Auge, als den Deutschen das »Buch der Bücher« in ihrer eigenen Landessprache gegeben wurde.

Denn die Reformation machte die Bibel für alle zugänglich. Göttliche Liebe machte den Menschen die Werte und Ordnungen des Himmels verständlich.

Deutschlands innerer Reichtum: geistliches Erbe mit Wirkungskraft bis heute

Der wahre Aufschwung begann mit einem aufgeschlagenen Buch. Martin Luthers Werke, die den Menschen den biblischen Glauben nahebrachten, »wurden in Stadt und Land positiv aufgenommen … Die Schriften wurden von Armen und Reichen, Gelehrten wie Laien, mit großem Interesse gelesen … Arbeiter, Soldaten, Frauen und sogar Kinder waren mit den Lehren der Bibel besser vertraut als Priester und Gelehrte.« (VSL 179.180)

»Das hatte ihre schlummernden Kräfte geweckt. Es säuberte und adelte nicht nur ihre geistliche Natur, sondern vermittelte auch dem Verstand neue Kraft und Energie.« (GC 195 im Engl.; Kaiser Wilhelm II. war im Besitz dieses Buches, wie eine bibliothekarische Aufstellung seiner im Exil verbliebenen Privatbibliothek bezeugt – Quelle: https://kenniscentrumhuisdoorn.nl/library/record?q=12147 aufgerufen am 23.03.2025)

Inmitten des Streits und des Aufruhrs der Nationen brachte diese mächtige Bewegung die Welt zum Staunen. Und innerhalb eines Jahrhunderts »war das Land zu hohem Wohlstand gelangt.« (HS 176) Das Land wurde als eine Nation des Reichtums bekannt.

Der Historiker James Aitken Wylie hält fest:

»Deutschland galt als reiches Land. In Zeiten des anhaltenden Friedens waren die Ortschaften gewachsen, die Zahl der Dörfer hatte sich vervielfacht und die blühenden Felder zeugten von der hervorragenden Qualität ihrer Bewirtschaftung.«

Den Einfluss biblischer Wahrheiten auf das Leben Deutschlands bringt er wie folgt zum Ausdruck:

»Der süße Hauch jenes Morgens [der Reformation] gab Deutschland eine außerordentliche moralische Spannkraft, belebte dessen Künste und Wirtschaft, und füllte das Land mit allem, was gut ist. Die Städte waren sehr reich, und auch die Landbevölkerung lebte in angenehmen und unbeschwerten Verhältnissen.« (James Aitken Wylie, History of Protestantism Vol. 3, p. 256)

Eine geistliche Erneuerung von nie dagewesener Wucht belebte nicht nur die deutsche Wirtschaft, sondern auch das moralische Fundament des Landes. Die daraus erwachsenen Werte prägten über Generationen hinweg Kultur, Charakter und Gemeinschaft – und machten Deutschland zu einer der führenden Nationen Europas.

Es waren eben diese geistgewirkten Werte, die Deutschland nicht nur zu äußerer Stärke, sondern auch zu innerer Stabilität und kultureller Tiefe verhalfen – ein Erbe, das bis heute nachhallt.

Deutschland wurde groß durch Erfindung und Fleiß – doch seine eigentliche Stärke lag in etwas Tieferem: Es ist ein Land, das seine Wege pflasterte – nicht nur mit Stein, sondern mit Schrift, Glaube und Verantwortung.

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