Unsere Wurzeln verstehen, Umkehr praktizieren und Versöhnung erleben. Von Jurek Schulz
Frühkirchliche Entwicklung
Das Christentum hatte sich im 1. und 2. Jahrhundert gerade durch »Judenchristen« in der jüdischen Diaspora ausgebreitet. Ebenso wie innerhalb der Apostelgeschichte war auch die nachapostolische Zeit weiterhin primär eine Geschichte innerhalb des Judentums.
Die häufig gebrauchte Darstellung, »einige wenige« hätten Jeschua als ihren Messias erkannt, beruht auf einem Irrtum. Hierzu wird häufig Apostelgeschichte 28,24 zitiert. Aus dem Kontext geht jedoch hervor, dass einige jüdische Bewohner Roms durch das Zeugnis von Paulus zum Glauben an Jeschua kamen. Neben der Tatsache, dass es reihenweise positive Reaktionen vieler einzelner Juden auf die Botschaft gab,1 kam es auch zu Massenbekehrungen.2
Dennoch vergrößerte sich im 2. Jahrhundert die Kluft zwischen Heiden- und Judenchristen, und mit der Zeit nahmen die Heidenchristen eine dominierende Stellung ein. Rasch schufen die ersten bedeutenden Wortführer unter ihnen einen religiösen Antijudaismus, der bis heute nicht überwunden ist.
Bildung theologischer Grundlagen für den Antijudaismus
Die Katechetenschule im ägyptischen Alexandria war die bedeutendste Ausbildungsstätte in den ersten Jahrhunderten. Sie entwickelte die ersten uns bekannt gewordenen theologischen Grundlagen für den Antijudaismus.
Deren Leiter, Clemens von Alexandria, (ca. 140–215 n. Chr.) und sein Nachfolger Origenes (ca. 185–253 n. Chr.) waren der Meinung, Jerusalem sei aufgrund des Gottesmordes zurecht bis auf die Grundmauern zerstört worden.
Melito war Bischof von Sardes in Kleinasien und wirkte während der Regierungszeit von Kaiser Marc Aurel (161–180 n. Chr.). Er verfasste als erster eine theologische Typologie für die »Heidenchristen« auf Grundlage der hebräischen Bibel. In seiner Passah-Homilie schilderte er den Auszug Israels aus Ägypten und benutzte diese geschichtliche Begebenheit als Bild, um anschließend das Passah typologisch für Christen nichtjüdischer Herkunft zu deuten. Dabei versuchte er, die Außerkraftsetzung des Gesetzes für Christen theologisch nachzuweisen: »Und hier ist heute das, was einst wertvoll war, wertlos geworden.« Durch Jesus habe daher alles zuvor Gewesene seine Bedeutung verloren. Gott sei ermordet worden und der König Israels durch die Rechte Israels beseitigt. So gebrauchte er die Schriften der Juden, ihren Tanach (die hebräische Bibel), als Waffe gegen sie.3
Justin der Märtyrer, ein großer Apologet des 2. Jahrhunderts, verfasste 160 n. Chr. die Schrift »Dialog mit dem Juden Tryphon«. Darin heißt es, »die Juden seien voll Schlechtigkeit, Ihre Sündhaftigkeit steige in das Maßlose.« Zudem betrachtete er die Unterwerfung durch die Römer als göttliches Strafgericht über das Gottesmördervolk und schrieb: »Es … ist recht und gut, dass euch das zugestoßen ist … ihr verkommenen Söhne, ehebrecherisches Gezücht. Ihr Dirnenkinder.«4 Nach und nach wurde der Antijudaismus zu einer eigenständigen Literaturgattung unter Christen.
Der Kirchenvater Tertullian (150–220 n. Chr.) gelangte zu der Erkenntnis, dass die Juden verworfen seien.
Als Kaiser Konstantin 312 n. Chr. die Alleinherrschaft über das römische Reich erlangte, erneuerte er das Toleranzedikt von 311 n. Chr. und erhob damit das Christentum zu einer offiziell anerkannten und gleichberechtigten Religion.
Was bedeutete das für das Judentum?
Leider geschah der Triumphzug des Christentums auf dem Rücken des Judentums. Aufgrund des Toleranzediktes trat ein staatlich befürworteter, aber auch religiös motivierter Antijudaismus ein. Im Mittelalter sollten dann noch wirtschaftliche Ursachen hinzukommen. Die Zahl der Judenchristen nahm ab, um Ende des 4. Jahrhunderts fast völlig zu verschwinden.
Schon bald wuchsen die staatlichen Reglementierungen jüdischen Lebens, etwa durch das Verbot der Beschneidung von Konvertiten zum Judentum (335 n. Chr.) und von Mischehen (339 n. Chr.) mit Juden oder Judenchristen.
325 n. Chr. wurde das erste große christliche Konzil durch Konstantin in Nicäa einberufen, das die kirchliche Trennung zwischen Juden und Christen nach sich zog. Die christlichen Festtage wurden neu geordnet, sodass sie nicht mehr zeitgleich mit den jüdischen Fest- und Feiertagen, wie z.B. dem Shabbat oder Pessach, begangen wurden.5
379 n. Chr. kam Theodosius I. an die Macht und steigerte die Spannungen zwischen Juden und Christen, indem er die Gesetze Konstantins bestätigte und verschärfte. Von nun an wurden Vergehen gegen die Gesetze der Trennung von Juden und Christen unter Todesstrafe gestellt.
Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.), Bischof und einer der Väter der Westkirche, nahm eine dogmatische Stellung gegenüber den Juden ein. Er wurde einer der einflussreichsten Theologen der römisch-katholischen Kirche. Seine Worte: »Die Zerstreuung der Juden ist zum Zwecke der Zeugenschaft für die Christen … sie haben dem Herrn Galle zur Speise gegeben, deswegen soll ihr Rücken stets gebeugt sein.« (Zitat aus Psalm 69,21). So entwickelte er eine regelrechte Theologie der Judenfrage, wie die Wissenschaftler Rengstorf und von Kortzfleisch es formulieren.5
Seine Behauptung gipfelt in dem Zynismus: »Die Juden sind nicht durch die Auserwählung Gottes ausgezeichnet worden, sondern durch ihre Blindheit und Verstockung. Ihre Existenz sollte nur zum Zweck der Dokumentation der Verworfenheit von Gott zum Zeugnis für die Christen gesichert werden.«
Der Höhepunkt der antijüdischen Polemik wurde unter Johannes Chrysostomos (354–407 n. Chr.) erreicht. Als Presbyter der Gemeinde in Antiochien wurde er bald der bedeutendste Prediger der Gesamtkirche seiner Zeit. Überzeugt davon, man könne nur entweder Christ oder Jude sein, setzte er sich für eine rigorose Trennung beider Gruppen im gesellschaftspolitischen Bereich, im religiösen Leben und theologischen Denken ein.
So verurteilte er es aufs Schärfste, dass es bis dahin Christen gab, die mit Juden zusammen die jüdischen Festtage begingen oder neben den Sonntagsgottesdiensten auch die Synagogen am Sabbat besuchten. Er nannte die Synagogen Dämonenbehausungen und die Fest- und Feiertage der Juden illegitim. Es kann nicht aufgeführt werden, welche Wortwahl er gebrauchte, um die Juden zu diffamieren und den Überlegenheitsanspruch der Christen herauszustellen. Grauenhaft sind die Anschuldigungen, Verurteilungen und Bösartigkeiten dieses Chrysostomos, der zu einem beispiellosen geistigen Brandstifter wurde, dessen Saat über fast zwei Jahrtausende aufging und im 20. Jhd. durch Ausschwitz seinen bisher schrecklichsten Höhepunkt fand.
Das Trinitätsdogma wird zum Gericht
Seit die Trinität als Glaubensgut und der Heilige Geist als Gottheit anerkannt wurde,6
konnte Johannes Chrysostomos den Juden das Vergehen gegen die Trinität vorwerfen, indem er sagte: »Sie haben den Vater nicht gekannt, den Sohn gekreuzigt, und den Beistand des Geistes zurückgewiesen.« Daher war die Synagoge für ihn ein Ort, wo die Mörder Christi zusammenkommen, wo das Kreuz verstoßen und wo Gott gelästert wird.7
Thedosius II. verbot 408 n. Chr. das jüdische Purimfest, da angeblich Christus bei der Feier verspottet würde. Der wahre Grund jedoch war wohl eher, um die rigorose Trennung von Juden und Christen voranzutreiben. Dies war ein Wendepunkt. Von nun an kam es auch in innerjüdischen Angelegenheiten zu staatlichen Übergriffen.
Der römische Kaiser Justinian I. (ca. 527–565 n. Chr.), der den Codex Justinianus erließ, ging noch weiter. Unter ihm galt als »Ketzer« bei Androhung von Todesstrafe, wer Christus nicht als alleinigen Gott anerkannte. Jeder musste sich damit der herrschenden Orthodoxie unterwerfen, auswandern oder sterben. Aufgrund religiöser Anschauungen wurden auf politischer Ebene Gesetze erlassen, die Ausdruck christlicher Weltanschauung waren. Das Resultat war, dass das Leben der Juden in allen Bereichen staatlich beschränkt wurde.
Ein Handwerk auszuüben, wurde den Juden unmöglich gemacht, die Teilnahme als Zeugen an Gerichtsprozessen verboten, da sie Bürger zweiter Klasse waren. Der gesamte Gebrauch der jüdischen Auslegungsüberlieferung – Talmud, Mischna und Gemara – wurde verboten und christliche Glaubensinhalte vorgeschrieben.
Zudem waren jüdische Einrichtungen nicht mehr schutzwürdig. Damit wurde die Linie von Ambrosius, Bischof von Mailand (339–397 n. Chr.) fortgesetzt, der einen juristischen Freispruch für Angeklagte eines Synagogenraubes und einer Synagogenbrandstiftung folgendermaßen begründete: »Dort wird Christus geleugnet … es ist ein Tempel des Unglaubens, eine Heimat der Gottlosigkeit. Dieser Schlupfwinkel des Wahnsinns, ist von Gott selbst verdammt worden.« Es durften künftig keine Christen und keine Gelder von Christen für einen Wiederaufbau einer abgebrannten Synagoge zur Verfügung gestellt werden.
Fazit
Mit diesen Beispielen aus der frühen Kirchengeschichte wird deutlich, dass alle Ereignisse, die in der Zukunft noch kommen sollten, ihren Anfang in dieser frühchristlichen Zeit nahmen.
Ja noch mehr, hier fanden sich ihre Vorbilder für alle weiteren antijüdischen Maßnahmen in den folgenden beiden Jahrtausenden. Die Barriere, welche die Kirchengeschichte zwischen Juden und Christen errichtet hat, kann nicht einfach ignoriert werden. Ebenso wenig, dass wiederum innerhalb des Judentums sich Prozesse entwickelt haben, die im Christentum die Ursache für alles Böse sehen, und es daher hassen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und www.amzi.org
Inhaltliche Abweichungen beruhen auf einem ausführlicheren Manuskript des Autors.
Quelle: hoffnung-weltweit.info